Fragen an Dipl.-Biologe Bernhard Rauhut, Leiter des UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer-Besucherzentrum in Cuxhaven und Udo Fischer, dem Geschäftsführer des Touristikverbandes Landkreis Rotenburg (Wümme) e.V.:
Fast nirgends sonst auf der Welt haben Menschen die unglaubliche Möglichkeit, auf dem Meeresboden entlangzulaufen. Bernhard, macht das die Faszination für das Watt aus?
Bernhard Rauhut: Dies ist sicher ein wichtiger Grund, denn dieses Phänomen der Gezeiten lässt viele Gäste staunen. Eben noch lud die Nordsee zum Baden ein und wenig später liegt der Meeresboden frei. Faszinierend ist auch die besondere Stimmung im Watt mit dem unverstellten Blick bis zum Horizont und den ganz eigenen Gerüchen und Geräuschen.
Die besondere Eigenart der Natur ist hier mit allen Sinnen erlebbar.
Für dich bedeutet Watt Freiheit. Warum?
Bernhard Rauhut: Es ist die Weite der Wattlandschaft, die das Gefühl gibt, nicht eingeengt zu sein. Die Natur ist im Wattenmeer nicht gezähmt oder reguliert, wie in unserer Kulturlandschaft. In dieser Wildnis kann man Freiheit fühlen.
Im Watt gibt es keine ausgeschilderten Wege. Wie können sich die Besucher orientieren?
Bernhard Rauhut: Für das Watt vor Cuxhaven stimmt das nicht ganz. Hier gibt es Wege, die mit sogenannten Pricken gekennzeichnet sind. Pricken sind Reisigbündel, die in den Wattboden gesteckt sind, damit z.B. der Weg zur Insel Neuwerk für die Wattwanderer erkennbar ist. Abseits dieser besonderen Strecken ist die Orientierung durchaus schwierig und wenn man die Orientierung verliert, kann das sehr gefährlich werden. Deshalb müssen sich Wattwanderer gut informieren oder sich am besten einem ausgebildeten Wattführer anschließen.
„Was man nicht kennt, sieht man nicht“ – aus diesem Grund sollte man mit einem Wattführer die Landschaft entdecken ...
Bernhard Rauhut: Genauso ist es! Wer mit einem Wattführer unterwegs ist, erlebt das Watt viel umfassender. Wattführer zeigen das Leben im Verborgenen. Sie können über die Geheimnisse des Vogelzuges berichten und wissen vieles über die regionale Geschichte. Mit diesen Experten sind interessante Entdeckungen sichergestellt.
Dir ist es auch besonders wichtig, dass die Menschen das Watt begreifen – also richtig mit den Händen anpacken! Wieso?
Bernhard Rauhut: Bei unseren Wattführungen zeigen wir das Watt für alle Sinne. Hören, riechen, schmecken und fühlen, so kann man das Watt und seine Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Das Anfassen eines Wattwurms oder einer Strandkrabbe wird zum unvergesslichen Watterlebnis.
Gibt es besondere Wattwanderungen und Aktionen für Kinder? Welche?
Bernhard Rauhut: Unsere Wattführungen sind immer auch besonders geeignet für Kinder. Spuren im Wattboden lesen und dann die zugehörigen Tiere zu entdecken, das macht Kindern viel Spaß.
Durchs Watt wandern ist ja eher ein entdeckendes Schlendern – oder reißen hier einige als sportliche Herausforderung viele Kilometer ab bzw. laufen durchs Watt?
Bernhard Rauhut: Wie überall gibt es da die unterschiedlichsten Typen. Aber das Watt ist Weltnaturerbe und wurde nicht als Sportstätte ausgezeichnet. Wer sich auf ein Naturerlebnis einlassen möchte, sollte sich auch Zeit dafür nehmen. Bei praktisch jedem Schritt kann man Beobachtungen machen, bis die auflaufende Flut dem Schlendern und Beobachten ein Ende setzt.
Wann ist für dich persönlich die beste Jahreszeit, um das Watt zu erleben?
Bernhard Rauhut: Jede Jahreszeit ist geeignet, nur sind die Erlebnisse ganz unterschiedlich. Das Wetter spielt natürlich auch eine wichtige Rolle. Im Sonnenschein erlebt man das Watt anders als bei Sturm und Regen. Aber ich persönlich mag es, in der Nebensaison bei sonnig warmem Wetter im Watt unterwegs zu sein, abseits der Hauptrouten.
Im Oktober sind die Zugvogeltage, bei denen nicht nur hunderttausende Vögel durch die Region ziehen, sondern auch hunderte Veranstaltungen zum Thema auf die Besucher warten. Kannst du uns einen Eindruck von zwei, drei besonderen Events vermitteln?
Bernhard Rauhut: Meine Lieblingsveranstaltung während der Zugvogeltage ist die Tagesexkursion zur Insel Neuwerk. Mit der Wattkutsche geht es hin und mit dem Schiff zurück. Dazwischen führen und informieren die Nationalparkhaus-Kollegen auf Neuwerk bei einem ausgedehnten Rundgang über die Zugvögel. So vergeht der Tag wie im Fluge.
Udo, besondere Vögel kann man bei Wanderungen auf den Nordpfaden im Landkreis Rotenburg an der Wümme und Umgebung auch entdecken – zum Beispiel den knallblauen Eisvogel…
Udo Fischer: Ja, die Flora und Fauna ist sehr vielfältig bei uns in der NORDPFADE-Wanderregion. Beim Wandern kriegt man einen ganz anderen Blick auf und für die Natur. Als ich vor Jahren am NORDPFAD Kirchsteg-Moore-Bäche zum ersten Mal einen Eisvogel live gesehen habe, war ich sehr beeindruckt, da dieser ja doch sehr scheu ist. Bei uns begeistern vor allem die vielen Zugvögel, insbesondere die tausende Kraniche im Herbst die Wanderer. Tagsüber sieht man sie dann auf den Feldern entlang einiger NORDPFADE grasen und rasten. Abends zur Dämmerung ziehen sie dann in vielen Gruppen von bis zu hundert Vögeln in ihre Schlafplätze im Tister Bauernmoor und Huvenhoopsmoor direkt an den NORDPFADEN ein.
Was macht in dieser Region das Wandern aus, was ist hier einzigartig?
Udo Fischer: Die NORDPFADE-Wanderregion ist ja noch eine ganz neue bzw. junge Wanderregion. Erst Anfang 2014 wurden die ersten der jetzt insgesamt 24 NORDPFADE entwickelt.
Vieles an den NORDPFADEN begeistert die Wanderer: Es sind alles Rundwanderwege zwischen fünf und 32 km Länge. Alle NORDPFADE verlaufen bis zu 80 Prozent auf naturnahen oder geschotterten Wegen. Auch sind die NORDPFADE „unverlaufbar“ in beide Richtungen markiert und ausgeschildert. Was aber immer super ankommt ist die Vielfalt der Landschaft und Natur, die unsere Wege bieten: weite Flusslandschaften, malerische Seen, beeindruckende Moore, lilablühende Heideflächen im August, traumhafte, dichte und auch märchenhafte Wälder. Du wanderst hier für Dich. Du kommst nicht durch große Städte oder durch Industriegebiete. Das Naturerlebenis wird auf den NORDPFADEN ganz gross geschrieben. Natürlich triffst Du auch auf andere Wanderer, aber alle sind hier „gechilled“ und genießen die AusZEIT in der Natur.
Vorbei an Streuobstwiesen, Forellenteichen, Mühlen und Kirchen: Am Wegesrand können Besucher einige Schätze finden …
Udo Fischer: Ja, es gibt unzählige Schätze an den NORDPFADEN zu erleben. Z.B. liegen die tollen Wassermühlen von Eitzmühlen (mit dem Oste-Cafe), von Bademühlen, Sittensen und Federmühlen (in diesen dreien kann man sich sogar „trauen und JA-sagen“) direkt an den Wanderwegen. Wir haben tolle Moorlandschaften, durch die die NORDPFADE führen: das Tister Bauernmoor (NP Börde Sittensen) wie auch das Huvenhopsmoor, das Tarmstedter Moor und Große Weiße Moor (NP Dör´t Moor). Bei einigen NORDPFADEN wandert man durch eindrucksvolle und sehr alte Bauerndörfer, wie u.a. Riekenbostel (NP Federlohmühlen) oder Ober Ochtenhausen (NP Ostetal). In Westertimke läuft man an einem rund zwei Meter großen, roten Damenschuh vorbei (NP Timke-Wälder). Aber auch tolle Kunstwerke liegen direkt an den NORDPFADEN, wie u.a. die sechs Pilger (NP Wümmeniederung) und Willy Wandervogel (NP Vörder See und Osteland). Die flach-weiten NORDPFADE bieten eine unglaubliche Vielfalt, sowohl an Natur- als auch an Kulturschätzen. Es macht Spaß, diese zu erwandern und zu erleben.
Deine Region kann ausgezeichnete Qualitätswege „Wanderbares Deutschland“ vorweisen. Welche Kriterien erfüllen diese Routen?
Udo Fischer: Zunächst ist festzustellen, dass alle unsere 24 Rundwanderwege nach den Qualitätskriterien des Deutschen Wanderverbandes entwickelt wurden. Die NORDPFADE Hölzerbruch-Malse, Ostetal, Kempowskis Idylle, Kuhbach-Oste und Dör´t Moor erhielten 2019 obendrauf die Auszeichnung „Qualitätsweg TRAUMTOUR“. Diese Auszeichnung erhalten nur die besten Wanderwege in Deutschland. Sie verfügen u.a. über ein größeres Maß an Natur-Erlebnissen, verlaufen überwiegend auf naturnahen Wegen, meiden Asphalt, sind bestens in beide Richtungen markiert. Außerdem haben sie mindestens eine herausragende kulturelle oder naturräumliche Besonderheit zu bieten.
Vom Baltikum über Königsberg, Danzig, Rostock, Lübeck, Hamburg, Stade bis nach Bremen: Der Baltisch-Westfälische Jakobsweg führt durch deine Region, bis er in den rheinisch-westfälischen Jakobsweg übergeht und die Pilger schließlich nach Belgien, Frankreich und Spanien leitet. Ist das für dich besonders, Teil dieses Pfads zu sein?
Udo Fischer: Seit 2006 führt ein Teil des Baltisch-Westfälischen Jakobsweges von Hamburg kommend durch die Landkreise Stade und Rotenburg (Wümme) bis zum Bremer Dom. Beeindruckende Kirchen und Klöster liegen an der Strecke, wie die in Stade, Harsefeld und Zeven. Aber auch kleinere Kirchen, wie die in Horstedt und Wilstedt, machen den Reiz des Pilgerns aus.
Pilgern ist seit Jahren sehr beliebt und wird von einer ganz anderen Zielgruppe als den typischen Wanderern genutzt. Es sind Menschen, die über mehrere Tage am Stück dem Alltag entfliehen wollen. Sie wandern bzw. pilgern einfach immer weiter und weiter. Sie meditieren auf ihren Routen und lassen meist „Ballast“ hinter sich. Ja, es ist cool, dass wir in der Region Nordsee-Elbe-Weser mit dabei sind und man der blauen Muschel auf gelben Untergrund folgen kann.
Stand: Juni 2020